Gezeiten des Lebens
Wenn man jemanden liebt,
so liebt man ihn nicht die ganze Zeit,
nicht Stunde um Stunde
auf die gleiche Weise.
Und doch ist es genau das,
was die meisten von uns fordern.
Wir haben so wenig Vertrauen
in die Gezeiten unseres Lebens,
die Gezeiten der Liebe,
die Gezeiten der Beziehungen.
Wir jubeln der steigenden Flut
entgegen und wehren uns erschrocken
gegen die Ebbe.
Wir haben Angst, die Flut würde nie
mehr zurückkehren, haben Angst, die
Wasser könnten für immer versiegen.
Wir verlangen Beständigkeit,
Haltbarkeit, Fortdauer; jedoch die einzig
mögliche Fortdauer des Lebens wie der
Liebe liegt im Wachstum, im täglichen
Auf und Ab, in der Veränderung – wie
schmerzend sich diese auch darstellt,
im Kommen und Gehen – in der
Freiheit.
Ja, in der Freiheit von Tänzern,
die sich kaum berühren und doch
Partner in der gleichen
Bewegung sind.
Anne Morrow
Aus: Anne Morrow Lindbergh: Gezeiten des Lebens.